Die
Verbreitung des Streichbogens in Europa
und seine Entwicklung bis ins 16. Jahrhundert
Einer
der frühesten Belege von Streichbogen in Europa ist in einer
Handschrift der Madrider Nationalbibliothek (um 920 - 930;
Signatur: Hh 58) zu finden. In ihr werden Fideln mit Bogen
in der Hand von Spielleuten dargestellt. Werner Bachmann
bezieht sich in seinem Artikel „Bogen“, in der Enzyklopädie
„Musik in Geschichte und Gegenwart“, auf dieselbe Quelle und
datiert diese Miniaturen in zwei mozarabischen
Apokalypse-Handschriften auf 970, bzw. wenig später. Beide
seien in Spanien entstanden, das damals größtenteils unter
arabisch-islamischer Herrschaft stand.
Während im Artikel von Christian Hannick über „Byzantinische
Musik“, in „Die Musik in Geschichte und Gegenwart“, kein
Hinweis auf Streichinstrumente zu finden ist, berichtet
Bachmann im Abschnitt „Bogen“ im gleichen Werk von einer
Vielzahl von Darstellungen von Streichbogen in
byzantinischen Handschriften, die um die Jahrtausendwende
entstanden seien. Byzanz erstreckte sich um 1025 (n. Chr.)
vom Kaukasus östlich des Schwarzen Meeres bis nach
Süditalien einschließlich der heutigen Türkei, Griechenland,
Bulgarien und dem ehemaligen Jugoslawien, während bei der
größten Ausdehnung dieses Reiches um 565 (n. Chr.) auch
Teile Spaniens, Landstriche des südlichen Mittelmeeres,
Korsika, Sardinien und die arabischen Staaten, teils unter
byzantinischer Hoheit, dazu zählten. Reger Schiffsverkehr
und Handel auf dem Mittelmeer mag jedoch den Weg der
Streichinstrumente nach Spanien geebnet haben. So ist
nachvollziehbar, wenn Bachmann den Weg des Bogens nach
Europa anhand von Miniaturen byzantinischer Handschriften
aus dem 11. Jahrhundert beschreibt. Demnach „wurde der Bogen
über Spanien und Byzanz nach Europa eingeführt und auf die
in diesem Raum heimischen fidel- und leierförmigen
Instrumententypen, die hier bereits vorher als
Zupfinstrumente nachweisbar sind, in Anwendung gebracht.“
All diese Bogen waren mit Rosshaar oder einem
saitenähnlichen Material bespannt. Die Bogenformen und
-längen waren in dieser Frühzeit der Streichinstrumente sehr
unterschiedlich und noch keiner Norm unterworfen. Auffallend
ist jedoch, dass die Bogen in der Anfangszeit zum großen
Teil sehr stark konvex gebogen sind, also eher an die ebenso
genannte Waffe erinnern.
Die
in Frankreich beheimatete Streichrotte, die vom 11. bis 13.
Jahrhundert Verwendung fand, hat ihr Gegenstück im
walisischen Crwth. Als Zupfinstrument wird dieses Crwth
bereits im 6. Jahrhundert in einem Gedicht des Bischofs von
Poitier, Venantius Fortunatus, erwähnt. Das Crwth war bis in
die Bretagne verbreitet, Belege für den Gebrauch des Bogens
bei diesem Instrument gibt es seit dem 10. Jahrhundert.
Bei Grabungen in Dublin, am Christchurch Place, fand man das
Fragment eines Streichbogens aus dem 11. Jahrhundert. Die
Stange verläuft von der Bruchstelle an leicht geschwungen
und zur Spitze zu deutlich gekrümmt, wo sie eine Kerbe
aufweist. An der eingekerbten Stelle wurde offensichtlich
der Rosshaarbezug um die Stange geschlungen und verknotet.
(siehe Abb.1) Stimmt die Datierung, ist die Verbreitung der
Streichinstrumente in dieser Zeit bis hin auf die Insel
Irland belegt.
Auch in Italien ist die Verwendung des Streichbogens bereits
im 11. Jahrhundert bezeugt. Zu den frühesten italienischen
Quellen zählt die um 1011 entstandene Freskomalerei in der
Krypta von S. Urbano alla Caffarello bei Rom. Es handelt
sich um eine Darstellung der Verkündigung der
Weihnachtsbotschaft an die Hirten auf dem Felde. Einer der
Hirten, offensichtlich in Tanzpose, spielt eine Fidel, die
er gegen die Brust gestemmt hat. Der abgebildete Bogen ist
sehr kurz und besitzt zusätzlich ein Griffende, wodurch das
spielbare Haar noch kürzer wird (sieheAbb.3).
Im 10. und 11. Jahrhundert wurden die unterschiedlichsten
Streichbogentypen erprobt und, soweit sie sich nicht
bewährten, wieder verworfen oder verändert. Dieses Suchen
und Tasten nach einer zweckmäßigen Form deutet darauf hin,
dass sich der Streichbogen um die Jahrhundertwende noch in
seinem Frühstadium befand und nicht auf Vorbilder
zurückgreifen konnte.
Noch
bis zum 16. Jahrhundert existieren einige Bogenformen
nebeneinander. Wie oben erwähnt, hat die ikonographische
Forschung ergeben, dass der Streichbogen um die
Jahrtausendwende in sehr unterschiedlichen, oft extremen
Formen in Erscheinung trat. Es existiert der große, stark
gekrümmte, nahezu halbkreisförmige Bogen, der etwa in der
Mitte der Stange festgehalten wird, wie auch der flache,
kaum gewölbte Bogen, dessen Bezug fast an der Stange
anliegt.
In einer Darstellung von Lucas van Leyden, „Geigende
Bettlerin“ von 1524 (siehe Abbildung 4), ist der Bezug an
die gebogene Stange aus einheimischem Holz geknotet. Ein
Kopf ist in dieser Zeichnung nicht dargestellt. Vielmehr
sind die Haare zu einer Schlaufe gebunden und in einer
Kerbe, oberhalb einer Verdickung der Stangenspitze,
eingehängt. Ein Frosch, der die Haare am unteren Teil des
Bogens von der Stange abspreizt, ist hier nicht zu erkennen.
Bei genauerer Betrachtung sind die Haare jedoch kurz
oberhalb des Zeigefingers mit einer Schlaufe an der Stange
direkt befestigt. Um die Haare beim Spielen von der Stange
entfernt zu halten, war der Bogen konvex gekrümmt.
Neben dem gleichmäßig gekrümmten Rundbogen findet man auch
einendig gekrümmte Bogen mit gerader, nur an der Spitze
deutlich gebogener Stange. Weiterhin ist eine Bogenform
vertreten, bei der die Stange auf einer Seite weit über den
Bezug hinausragt. Dieser als Handgriff dienende Teil ist bei
frühen Exemplaren etwa genauso lang wie der bezogene Teil,
der zum Streichen dient. Das spielbare Haar ist hier sehr
kurz. Dadurch sind nur sehr kurze Strichbewegungen möglich.
Andere Darstellungen zeigen jedoch sehr flach gebogene
Stangen, deren Länge sich oft auf das doppelte des
dazugehörigen
Instrumentes beläuft. Bei diesen fast geraden oder auch zum
Teil konkaven Bogen wird das Haar an der Griffstelle durch
einen oft recht hohen Klotz oder Keil, der heute als Frosch
bezeichnet wird, von der Stange getrennt. Am anderen Ende
laufen Haar und Stange jedoch zusammen. Im Gegensatz zu den
später auftretenden Bogen, sind hier Klotz und Stange oft
aus einem Stück oder fest miteinander verbunden. Auch bei
diesen Bogen ist noch nicht die vollständige Länge der Haare
zum Spielen geeignet. Dieses Problem wurde erst gelöst, als
am oberen Ende des Bogens ein so genannter Kopf aus dem Holz
der Stange stehengelassen wurde, der das Haar von der Spitze
fernhielt.
Zur Herstellung der Bogenstange verwendete man schon im
Mittelalter vorwiegend Holz, das große Festigkeit mit
Elastizität verbinden musste, um die erforderliche Spannung
auszuhalten. Vereinzelt kann man auf Darstellungen des 13.
und 14. Jahrhunderts, aus Gebieten mit orientalischem
Einfluss, Stangen aus Bambusrohr erkennen. Noch heute ist
dieses Material für den Bau von Bogen für ostasiatische
Volksinstrumente üblich. Im mittelalterlichen Europa ist
dieses Material zur Bogenherstellung jedoch nicht
nachzuweisen.
Ab dem 13. Jahrhundert zeugen die Quellen häufig von
Rosshaarbespannungen, während noch im 10. Jahrhundert
al-Farabi zufolge, wie oben bereits angedeutet, der Bezug
aus „Saiten oder saitenähnlichen Gebilden“ bestand. Zur
Bogenherstellung und über die Stärke des Rosshaarbezuges ist
laut Werner Bachmann in seinem Buch „Die Anfänge des
Streichinstrumentenspiels“ gegen 1400 in einem türkischen
Traktat des Ahmedoglu Sükrüllah zu lesen: „Und die Rosshaare
soll man an jenem Bogen befestigen wie Bogensehnen. Die
Anzahl jener Rosshaare soll neun betragen; und wenn es aber
mehr als neun sind, geht es an; es sollen jedoch nicht mehr
als vierzig sein.“ Der Bezug war damals also in der Regel
sehr viel schwächer als der heute gebräuchliche, welcher für
einen Violinbogen etwa 160 - 180 Haare zählt.
Anke Gerbeth
Bildnachweis
Abb. 1: Bachmann, Werner: Bogen. In: Finscher,
Ludwig (Hrsg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Band
1. Kassel 21994, Sp. 1638.
Abb. 2: Bachmann, Werner: Die Anfänge des
Streichinstrumentenspiels. Leipzig 1964, Anhang Abb. 28.
Abb. 3: Bachmann, Werner: Bogen. In: Finscher, Ludwig
(Hrsg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Band 1.
Kassel 21994, Sp. 1639.
Abb. 4: Geiser, Brigitte: Studien zur Frühgeschichte der
Violine. Bern 1974, Anhang Abb. Nr. 44.
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