Wechselwirkungen zwischen der Entwicklung der Violintechnik
und Neuerungen im Bogenmacherhandwerk seit 1900
Lässt man die letzten 100
Jahre im Bogenbau Revue passieren, kann man ähnlich wie im
Geigenbau feststellen: die auffälligsten
Entwicklungssprünge, die sich auch nachhaltig durchgesetzt
haben, sind vorher passiert. Dennoch gab es auch im letzten
Jahrhundert einige Innovationen.
Zu Anfang des 20. Jahrhunderts hatten sich im Bogenbau im
weitesten Sinne einige Standartmodelle heraus-kristallisiert,
die ihren großen Vorbildern François Xavier Tourte,
Dominique Peccatte, François Nicolas Voirin oder später auch
Eugène Sartory nacheiferten. Zunehmend wurden, vor allem im
Raum Markneukirchen (D), aber auch in Mirecourt (F), Bögen
in großem Stil produziert. Ihren Höhepunkt fand diese
Entwicklung in Markneukirchen um 1920, als die Stückzahl im
Jahr auf ca. 36.000 Dutzend (fast eine halbe Million!) Bögen
wuchs.
Je nach Violinschule und individuellen Vorlieben der
einzelnen Musiker unterscheiden sich die Anforderungen an
die Bögen in Festigkeit, Gewicht, Gleichgewicht,
Biegungstiefe und Modell. Bis heute bevorzugt die russische
Geigerschule beispielsweise Bögen mit einer sehr festen,
widerstandsfähigen Stange, da mit einer höheren Haarspannung
gespielt wird. In Wien, um ein konträres Beispiel zu nennen,
werden im Gegensatz dazu bevorzugt Bögen mit geringerer
Haarspannung gespielt. Diese wird entweder durch
Bogenstangen mit geringerer Festigkeit, hauptsächlich jedoch
durch eine flachere Biegung erzielt. Durch diese geringe
Haarspannung entwickelt sich der für den Wiener Klang so
typische Charakter. Insgesamt gesehen stahlt jedoch die
russische Geigerschule bis heute durch nahezu alle modernen
Lehrstile hindurch und beeinflusst damit nachhaltig auch den
Bogenbau. Es wird jedoch immer schwieriger, bestimmte
Schulen und Einflüsse klar von einander abzugrenzen, da
viele Instrumentenmacher und mehr noch viele Musiker
multinationale Ausbildung genießen.
Trotzdem hier nun ein Versuch, einige erkennbare
Entwicklungen im Bogenbau seit dem Beginn des 20.
Jahrhunderts aufzuzeigen:
Anfang des 20. Jahrhunderts wurde meist der ab 1860
gebräuchliche neue, sehr schlanke und leichte Bogentyp
gespielt. Der von François Nicolas Voirin und Alfred Lamy
stark beeinflusste Stil zeichnet sich durch einen schmalen
Kopf, eine dünnere Ausarbeitung der Stange und des Halses
als bei Tourte und eine Holzauswahl aus, die eine sehr
leichte Art des Fernambukholzes bevorzugt. Das Idealgewicht
dieses Bogentyps lag zwischen 50g und maximal 56g. Der Grund
für die Entstehung und den Gebrauch dieser Bögen ist wohl in
der Spieltechnik der Zeit zu suchen, die ein stark
ausgeprägtes Handgelenkspiel ohne Einsatz des Oberarmes
forderte. Diese Spielweise geht auf einen Artikel des
Violinpädagogen F. Louis Schubert zurück, der in seinem Buch
„Die Violine“ 1865 sehr deutlich erklärte, wie die einzelnen
Finger der rechten Hand den Bogen umschließen müssen.
“Daumen und Mittelfinger liegen sich am Frosch gegenüber.
Der Bogen liegt im ersten Gelenk sowohl des Zeige- als auch
des Mittelfingers; Ring- und kleiner Finger liegen nur lose
auf der Stange. Es darf kein Zwischenraum zwischen den
ersten Fingern entstehen. Die Bewegung des Bogens geht vom
Unterarm aus. Der Oberarm hat beim Streichen fast gar nichts
zu tun, er darf jedoch auch nicht steif sein. Der Raum, in
dem gestrichen werden darf, ist nach hinten begrenzt. Der
rechte Arm darf nicht hinter die Fläche des Rückens
hinausstreichen. Auch sind sägende Bewegungen nicht
erwünscht.” Um die Möglichkeiten des Bogens in dynamischer
Hinsicht zu erlernen, gibt Schubert keine genauen Übungen
an. Er vertraut hier auf das musikalische Geschick seiner
Schüler. „Den Gebrauch des Bogens, in Bezug auf Stärke und
Schwäche der Töne, lernt sich von selbst, sobald man erprobt
hat, dass die Kraft des Bogens nach der Spitze zu abnimmt.“
Bis 1903 wird in den Violinschulen auf der steifen und
passiven Behandlung des rechten Oberarms beharrt, obwohl
auch die hervorragenden Geiger der Zeit, wie beispielsweise
Eugène Ysaÿe, die einen kräftigen Ton aus ihrem Instrument
hervorbrachten, den Oberarm mit einsetzten. Mit fixiertem
Oberarm ist es beinahe ein Ding der Unmöglichkeit, einen
kräftigen, klangvollen Ton zu produzieren. In keiner
Violinschule des 19. Jahrhunderts ist eine Opposition zu
erkennen, die sich gegen die Überbetonung des Handgelenks
und das vielfach direkt ausgesprochene Verbot des Einsatzes
des Oberarms stark macht. Ferdinand Küchler äußert sich 1929
verwundert über die Blindheit der Violinschulenverfasser:
„Schon vor vielen Jahren hätte jeder Violinlehrer, welcher
einen bedeutenden Geiger spielen sah, erkennen müssen, dass
ein großer Zwiespalt zwischen der Bogenführung der großen
Virtuosen und der gedruckten Lehren der Violinschulen
vorhanden war. […] Aus falsch angewendeter Pietät für diesen
oder jenen berühmten Verfasser eines Lehrwerkes, dessen
musikalischer Wert unantastbar war, rüttelte man lange Zeit
nicht an den falschen Lehren der Bogenführung, welche
traditionell von einer Violinschule in die andere wanderten.
Man entschuldigte großzügige Bewegungen des Oberarms
hervorragender Virtuosen als Extravaganzen genial
veranlagter Menschen. Der Respekt vor dem gedruckten Wort
war so groß, dass man nicht wagte, etwas an den alten, schon
von den Großvätern übernommenen Lehren zu ändern, man
scheute sich davor, für den Unterricht die Konsequenzen aus
dem Spiel der großen Geiger zu ziehen und eine
Gesetzmäßigkeit aus D e m abzuleiten, was man nur als Laune
des Genies gelten lassen wollte.“
Dr. F. A. Steinhausen machte in seinem 1903 veröffentlichten
Buch „Die Physiologie der Bogenführung“ den Violinlehrern
der Zeit den Vorwurf, „sie kennen nichts anderes als die
Ausbildung des Handgelenks“. Er weist auf die daraus
entstehenden gesundheitlichen Probleme der Spieler an deren
Gelenken hin. Steinhausens Lehre setzte sich nur sehr
langsam im deutschen Sprachgebiet durch.
Als erster Violinpädagoge weist Carl Flesch 1905 auf die
Rollbewegung von Ober- und Unterarm hin, die sich beim
Streichen vollzieht. In seinen „Urstudien“ stellt er dem
Schultergelenk und den Fingergelenken besondere Aufgaben und
lässt die Bedeutung des mechanisch begrenzten Handgelenks
zurücktreten. Er lehnt jede Beeinflussung durch den
„Nichtmusiker“ Steinhausen ab.
Die Geiger strebten im Lauf der Zeit immer mehr nach einem
kraftvolleren Ton. Da jedoch durch eine feste, jederzeit
kraftvolle Bogenführung ohne Schwächen nur große Töne
erzeugt werden können, versuchten sie für den seelischen
Ausdruck ein anderes Mittel zu finden. Sie suchten es im
Vibrato der linken Hand, was dazu führte, dass nahezu jeder
Ton mit einer Schwankung versehen wurde. Der eigentliche
Atem des Instruments, nämlich eine variable, differenzierte
Bogenführung, wurde vernachlässigt.
Ab ca. 1910 tragen auch die nun entstehenden Bögen den
Forderungen der Violinschulen Rechnung. Es entwickelt sich
das bis heute gültige Standardgewicht für Violinbögen
zwischen 59g und 62g. Dies wird zum einen erreicht durch
eine Holzauswahl mit höherer Dichte, sowie einer größeren
Kopfform und der Einführung von Silberdrahtwicklungen, die
nun immer mehr die vorher gebräuchlichen leichteren
Seidenfaden- bzw. Silbergespinnstwicklungen ablösen.
Bereits vorhandene Bögen werden oft dem neuen Ideal
angepasst und mit schwereren Wicklungen versehen.
Einer der berühmtesten Vertreter der russischen Geigerschule
war Leopold von Auer (1845-1930). Sie wird nach ihm auch
heute noch oft „Auer-Schule“ genannt. Aus dieser Schule
gingen berühmte Geiger wie beispielsweise Efrem Zembalist,
Mischa Elman, Jascha Heifetz und Nathan Milstein hervor. Da
Auer zu den Lehrern gehörte, die ihre Schüler nicht zu
Kopien ihrer selbst formen wollten, sondern vielmehr
versuchten, die Persönlichkeit des Lernenden ganz-heitlich
zu fördern, dürfte es schwer fallen, den Begriff der
„Auer-Schule“ allzu eng zu sehen.
Die Ebene des Streichens wird nun weniger als Auf- und
Abstrich, sondern viel mehr als ein Hin- und Herstreichen
empfunden. Das Eigengewicht des Armes kann so auf den Bogen
übertragen werden, was vollends dazu ausreicht, den größten
Ton zu bilden. Die geringste mögliche Muskelspannung soll
dabei angestrebt werden, da zu starke Muskelspannung oder
gar Verkrampfung das Armgewicht reduziert.
Die von Auer beeinflusste jedoch in-zwischen sehr
vielfältige russische Geigerschule bevorzugt Bögen mit einer
sehr festen, widerstandsfähigen Stange, da mit einer höheren
Haarspannung gespielt wird. Trotz Kanten des Bogens soll
möglichst immer mit allen Haaren gespielt werden. Der Bogen
wird dabei vom Arm geführt, die Finger sind beim Streichen
relativ passiv, sie sind dabei weder gespreizt, noch
aneinander gepresst, sondern liegen in natürlichem,
entspanntem Abstand an der Stange.
Andere Violinschulen hatten auch weniger positive bzw.
kuriose Auswirkungen auf den Bogenbau bzw. auf den
originalen Erhaltungszustand mancher Bögen, die im 19.
Jahrhundert oder Anfang des 20. Jahrhunderts gebaut wurden,
wie beispielsweise „Die Kunst der Bogenführung“ von Emil
Kross. Er forderte durch Manipulation am Froschmaul
Veränderungen an der Bogenform vorzu-nehmen und somit die
Ausführungen des Handwerkers zu „verbessern“: „Man schabe
den eckigen Vorsprung im Froschausschnitt heraus, da er ganz
unnöthig ist, so dass man die Daumenspitze nicht an, sondern
in den Frosch legen kann. Hierdurch wird der ganze Griff
viel sicherer, und man verbraucht vermittelst dieser
Einrichtung auch leichter die ganze Bogenlänge (bis dicht an
den Frosch).“ Kross kann mit dieser Lehrmeinung nicht
alleine geblieben sein, da aus dieser Zeit eine Vielzahl von
Bögen mit „verstümmelter“ Froschnase erhalten sind.
1929 meldete der Berliner Violinpädagoge Jon Woiku ein
Patent auf einen Bogen mit abgeschrägtem Frosch an. Durch
diesen Frosch liegt bei der physiologisch natürlichen
Kantung, also der zum Griffbrett hin gekippten Haltung des
Bogens beim Spielen in der unteren Bogenhälfte, die volle
Haarbundbreite auf der Saite auf. Die Stellung des Bogenkopfes hingegen bleibt unverändert, da beim Spielen
von der Mitte bis zu Bogenspitze die Stange relativ aufrecht
geführt wird.
Der Kasseler Konzertmeister Rolph Schroeder stellte 1937
seinen „Bach-Bogen“ der Öffentlichkeit vor. Um eine, wie
damals vermutet, stilgerechte Aufführung der Soloviolinwerke
Johann Sebastian Bachs zu gewährleisten, wurde dieser Bogen
entwickelt, dessen Stange sehr hoch konvex gebogen war.
Diese Wölbung der Stange konnte an ihrem höchsten Punkt
einen Abstand zu den Haaren von 10-13 cm erreichen.
Zusätzlich war der Frosch mit einem Scherenmechanismus
ausgestattet, der es dem Spieler ermöglichte, mit dem Daumen
die Haarspannung derart zu regulieren, dass entweder bei
lockerem Haar alle vier Saiten gleichzeitig angespielt
wurden oder bei gespanntem Bezug nur eine oder maximal zwei
Saiten berührt wurden. Über lange Zeit hinweg galt dieser
Bogen als das „non plus ultra“ bei der Interpretation
Bachscher Werke, das Modell entbehrt jedoch jeglicher
historischer Grundlage. Die Legende vom „Bach-Bogen“ geht
auf zwei Artikel von Arnold Schering aus dem Jahre 1904
zurück. Schering bezog sich darin auf eine Stelle aus Georg
Muffats Florilegium Secundum, in der es im Original heißt:
„In Angreiffung deß Bogens kommen die meisten Teutschen in
den kleinen und mittern Geigen mit den Lullisten über eins,
indeme sie die Haare mit dem Daumen, und die andere Finger
auf deß Bogens Rucken legen.“ Zur genaueren Verdeutlichung
seiner Feststellung führte Muffat leider keine Illustration
an, sein Hinweis auf Jean Baptiste Lully legt jedoch die
Interpretation nahe, dass es sich hier um den typischen
französischen Bogen und dem damit verbundenen „französischen
Bogengriff“ handelt, bei dem der Daumen unter dem Frosch zu
liegen kommt. Schering lag mit seiner Interpretation wohl
doch etwas falsch. Heute im Zuge der historischen Aufführungspraxis geht man vielmehr dazu über, alte
Barockbögen in Form und Spieleigenschaften genau zu
kopieren, um dem originalen Klangempfinden der jeweiligen
Musikepoche möglichst authentisch nachzuspüren.
(Anke und Thomas Gerbeth)
Weiterführende Literatur
Askenfelt, Anders: Über Bögen und
Bogenführung. In: Das Orchester 10/95. Mainz 1995, S. 2-7.
Boyden, David D.: Die Geschichte des Violinspiels von seinen
Anfängen bis 1761. Mainz 1977.
Boyden, David D.: Bow. In: Sadie, Stanley (Hrsg.): The New
Grove. Dictionary of Music and Musicians. Band 3. London/New
York 1980, S.125-135.
Boyden, David D.: Der Geigenbogen von Corelli bis Tourte.
In: Schwarz, Vera (Hrsg.): Violinspiel und Violinmusik in
Geschichte und Gegenwart. Wien 1975, S. 295-310.
Buchner, Alexander: Handbuch der Musikinstrumente. Hanau/M.
21985.
Diestel, Hans: Violintechnik und Geigenbau. Die
Violintechnik auf natürlicher Grundlage nebst den Problemen
des Geigenbaus. Leipzig 1912.
Grünke, Klaus: Die Entwicklung des Violinspiels und dessen
Einfluß auf die Entwicklung des Bogenbaus vom 16. bis 20.
Jahrhundert. In: Das Musikinstrument 2-3/95. Frankfurt/M.
1995, S. 68-76.
Guth, Peter: Die moderne russische Violinschule und ihre
Methodik. In. Schwarz, Vera (Hrsg.): Violinspiel und
Violinmusik in Geschichte und Gegenwart. Wien 1975, S.
154-172.
Kross, Emil: Die Kunst der Bogenführung.
Praktisch-theoretische Anleitung zur Ausbildung der
Bogentechnik und zur Erlangung eines schönen Tons. Op. 40.
Heilbronn 1892.
Küchler, Ferdinand: Lehrbuch der Bogenführung auf der
Violine. Leipzig 1929.
Milstein, Nathan; Volkov, Solomon: „Lassen Sie ihn doch
Geige lernen“. Erinnerungen. München 1993.
Schering, Arnold (Hrsg.): Denkmäler deutscher Tonkunst. 1.
Folge Band 29/30. Wiesbaden ²1958.
Schröder, Hermann: Die Kunst des Violinspiels. Ein
enzyklopädisches Handbuch für jeden Violinisten,
insbesondere für Lehrer und Lernende. Leipzig 21902.
Schwarz, Boris: Viotti - eine Neubewertung seiner Werke. In
Schwarz, Vera (Hrsg.): Violinspiel und Violinmusik in
Geschichte und Gegenwart. Wien 1975, S. 41-46.
Steinhausen, F. A.: Die Physiologie der Bogenführung.
Leipzig 1903.
Wunderlich, Friedrich: Der Geigenbogen. Eine Schrift für den
Fachmann und alle Geiger. Wiesbaden 21952. |